Die neue Alte

  • Hallo!

    Bei mir ist eine neue Geige eingezogen, die aber eher den Anschein macht, relativ alt zu sein. Mein nächster Besuch beim Geigenbauer dauert leider noch etwas (Sparen auf einen neuen Bratschen-Bogen) und da ich sehr neugierig bin, würde ich gerne mehr über "die neue Alte" wissen. Mich interessiert die Herkunft, das Alter und der Wert - allerdings nur für mich privat, ich möchte sie nicht verkaufen.

    Zunächst die Vorderseite, man kann erkennen, dass sie mehrere reparierte Risse aufweist (Stimmriss, Riss unter und über dem F-Loch).



    Eine Nahaufnahme des F-Lochs habe ich auch noch gemacht:


    Hier die Rückseite:


    Seitenansicht:


    Hier drei Bilder von der Schnecke:


    Sie hat eine Besonderheit am Übergang vom Korpus zum Hals, das kenne ich von meinen anderen Geigen so nicht, daher habe ich versucht, ein Foto davon zu machen (vorne geht das Holz nicht durch bis zum Hals):


    Und nun bin ich gespannt auf eure Einschätzungen und Antworten!

  • Willkommen im Forum Multiinstrumentalist!


    Das sieht nach einem sog. durchgesetzten oder Stiefelhals aus. Hier geht der Hals bis in den Geigenkorpus hinein und bildet einen breiteren Halsfuß, der an Boden und Decke geleimt ist. Die Geige hat also keinen Oberklotz. Vermutlich hat sie keine Eckklötze und vielleicht auch einen stehen gelassenen Bassbalken. Du könntest mal mit einem Zahnarztspiegel die Innenseite der Decke anschauen, ob die Oberfläche schön eben und gleichmäßig ist oder nur grob bearbeitet, so dass man noch tiefere Rillen vom Hobel oder Stechbeitel sieht.

    Ansonsten hat sie alle Merkmale einer Geige aus dem böhmisch/sächsischen Musikwinkel: Die Kehlung der Schnecke geht nur bis 6 Uhr, Sachsenherz am Ende des Wirbelkastens, spitze Zargenecken, die Lackfarbe passt auch.


    Ich schätze, die Geige wurde vor 1850 in Böhmen oder Sachsen gebaut.

  • Geigerlein, das ist sehr interessant, aber ich verstehe nur Bahnhof. Kannst du zeigen was du meinst? 6 Uhr? Sachsenherz?

  • Es gab zum Sachsenherz kürzlich einen Thread: Sachsenherz


    Hier gingen die Meinungen auseinander, ob das Sachsenherz den Bereich unter dem Maul der Schnecke (von vorn gesehen die enge Stelle an der Unterseite der Schnecke zum Wirbelkasten hin) meint, der manchmal, wenn man sich die Schnecke von der Seite ansieht, nur bis "6 Uhr" gekehlt ist, oder doch das hintere, untere Ende des Wirbelkastens. In diesem und im verlinkten, vorausgegangen Thread gibt es auch einige Bilder, auf denen man das gut sehen kann.

  • Sachsen/Böhmen ist sehr wahrscheinlich. Die haben in den Manufakturen aber noch länger als bis 1850 solche Hälse eingebaut, das ging schnell und so wie die Schnecke eher flüchtig geschnitzt ist, sieht mir das nach einem Manufakturinstrument aus de letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus.

  • Vielen Dank! Ich bin wirklich überrascht, wie viel man aus ein paar Fotos herauslesen kann und freue mich wirklich sehr, dass hier im Forum so geballtes Wissen zu finden ist! Und ich bin sehr glücklich, dass ich hier noch einiges lernen kann :)


    Den Thread zum Thema Sachsenherz habe ich mir angeschaut und kann das an meiner Geige nun wunderbar erkennen, genauso die Kehlung bis 6 Uhr.

    Tatsächlich bin ich an einen solchen Zahnarztspiegel gekommen und habe mal reingesehen. Leider kann ich davon keine Fotos machen und bin mir mit meiner Einschätzung als absoluter Laie sehr unsicher. Aber ich versuche mal, das Gesehene zu beschreiben:

    Der Hals scheint genauso angebracht zu sein, wie geigerlein das beschrieben hat. Das innen zu erkennende Teil hat die gleiche Form wie der Hals außerhalb und schließt an Boden und Decke an.

    In die Ecken kann ich leider nicht schauen, sodass ich nicht erkennen kann, ob es Eckklötze gibt oder nicht.

    Für mich als Laie sieht die Decke von innen sauber bearbeitet aus und ich kann keine tieferen Rillen erkennen.

    Beim Bassbalken kann ich mit bestem Willen nicht erkennen, ob er stehengelassen wurde oder nicht. Es scheint auf jeden Fall das gleiche Holz zu sein und auch die "Faserrichtung" und "Abstand zwischen den Fasern" (sorry, ich weiß wirklich nicht, wie man das richtig benennt) stimmt überein. Im Vergleich zu den Bassbalken, die ich mir im Internet angeschaut habe und die relativ gerade sind, hat er eine sehr hohe Wölbung im Bereich der F-Löcher.
    Der Riss über dem F-Loch scheint mit Papierstreifen (?) repariert zu sein. (Mit Reparaturen kenne ich mich auch nicht aus.)


    Über die wahrscheinliche Herkunft aus Sachsen/Böhmen freue ich mich sehr, da mir in meiner Sammlung ein Instrument aus dieser Region noch gefehlt hat. Und 19. Jahrhundert (egal ob früher oder später) klingt auch sehr gut, da ich alte Instrumente mag :)


    Vielleicht noch was zum Thema Klang: Beim Anspielen war ich selbst sehr überrascht, da ich das Instrument sehr billig bekommen habe. Sie spricht sehr leicht an, der Klang ist sehr voll und rund.