Warum würde ein Geigenbauer einen Zettel entfernen? Und was könnte das mit Heinrich Gill's Strategie zu tun haben?

  • Danke für die Antworten!


    Na, der sieht schon bewusst zerkratzt aus, weshalb ich ja
    ins Grübeln kam, und mir irgendwie nix Plausibleres einfiel, als dass jemand – eben
    nicht aus Verkaufsgründen!- die Herkunft vielleicht verschleiern wollte. Wenn
    er danach nicht im Nahbereich des Besitzers lebte, der sie hätte erkennen können….Ah
    gut, auf Deine Variante, ihr einen höheren Wert anzudichten, war ich nicht
    gekommen. Die Austauschbarkeit von Zetteln ist mir natürlich bewusst, eben drum
    hat´s mich ja auch gewundert, ihn zerkratzt drinnen zu belassen, und ein anderer war da wohl auch nie drübergeklebt.


    Wie ich die Wiki-"Übersetzung" und einen Internet-Artikel, den ich leider nicht mehr wiederfinde, verstehe, hat jener F. Niewczyk nach seiner Vertreibung eine Instrumenten-Manufaktur woanders gegründet, die noch heute von seinen Nachfahren geführt wird.

  • Oh! Ich sehe gerade, Sie wissen sowieso über ihn mehr als wie ich.
    Mir wurde mal eine Flachbauchmandoline von einem dieser N.angeboten. Der Verkäufer verlangte aber zuviel und das Instrument war in einem erbärmlichen Zustand

  • …aber wenn er eh nicht im Nahbereich des (Vor)Besitzers lebte, warum sollte er dann ausgerechnet den Zettel zerstören? Wenn derjenige schon die Geige nicht sieht, wie dann erst den Zettel? Das ist mir eine zu verdrehte Geschichte. :) Klar, kann alles sein, vielleicht hat ein Vorbesitzer auch persönliche Animositäten mit dem Erbauer gehabt, und wollte den Namen nicht mehr lesen… Wahrscheinlicher ist für mich, dass jemand für einen Verkauf oder auch um bei Kollegen besser dazustehen (...wer spielt im Orchester schon eine "Manufakturgeige") da herummanipuliert hat. Vielleicht hat derjenige auch den Zettel nicht ganz herausbekommen.


    Oder andersherum: Jemand glaubte, die Geige sei nicht von diesem Erbauer, und wollte den -in seinen Augen!- "falschen" Zettel entfernen.

  • …na, vielleicht lebte er in Dorf N. 30 km entfernt vom Dorf
    des Besitzers P. , sodaß die Kunde, daß eine "Niewzcyk-Geige", - egal ob der Name jetzt ne Hausnummer war -, in Dorf N.
    aufgetaucht sei, beim Besitzer in P. hätte ankommen können. Um die vorletzte
    Jahrhundertwende ist man ja auch nicht so viel und selbstverständlich
    herumgefahren, sodaß eine "Live-Wiederbegegnung" der Geige mit dem rechtmäßigen
    Besitzer eher unwahrscheinlich war. Aber ich gebe zu: Ziemlich verschraubt das
    Ganze. :) Deine Vorschläge sind plausibler…


    Aber daß man in Manufakturen so sauber und noch dazu vier
    Eckklötze eingesetzt hat, kann ich mir immer noch nicht vorstellen. Vielleicht
    poste ich sie demnächst mal. Zu schön die Vorstellung, eine Geige zu haben, die komplett von einem Geigenbauer gebaut wurde.


    Na, ich habe den Zettel jedenfalls vor dem Verschließen der
    Geige wieder reingeklebt.

  • Manufakturen haben alles zwischen "Fliessband" (na ja, also aus verschiedenen Teilen schnell und lieblos zusammengeleimt) bis hin zu wirklichen Meisterarbeiten abgedeckt. Es gab in Sachsen/Böhmen zahlreiche kleine Meister, deren "Einmannbetrieb" nicht rentabel war, und die ihre Instrumente daher von den Verlegern verkaufen liessen. Wie du schon schriebst, war das Reisen beschwerlich. Internet etc. gab es auch nicht- wie sollte ein einzelner Meister seine Instrumente denn gegen die Konkurrenz der Verleger vermarkten und verkaufen? Mal am Rande: Markneukirchen war vor dem ersten Weltkrieg der Ort in Deutschland mit der höchsten Millionärsdichte (=Instrumentenhändler…).


    Die Familien -oft war es die ganze Familie- haben in Heimarbeit gewerkelt, und entweder nur Einzelteile hergestellt (z.B. pro Woche eine bestimmte Anzahl von Hälsen an den Verleger geliefert), oder eben auch "Komplettinstrumente", quasi "Meisterarbeiten". Oder sie haben aus vom Verleger angelieferten Teilen die Geigen zusammengebaut… Alles zu einem furchtbaren Hungerlohn- das vergessen wir heute gerne, wenn wir auf die "schlechten Böhmenschachteln" schimpfen.


    Wenn man sich die Kataloge der Verlegerfirmen ansieht, gab es verschiedene Preis- und Qualitätsstufen, und die wurzeln genau in diesen verschiedenen "Herstellungsweisen". Da sind also -zugegebenermaßen im Vergleich zur Masse der Billiggeigen extrem selten- auch recht gute Instrumente dabei.

  • Danke Braatsch für diese Erläuterungen! Diese historischen
    Hintergründe von Dir oder gelegentlich auch yxyxyx finde ich immer sehr
    interessant und bereichernd.


    "Wertig" hätte ich vielleicht in Gänsefüsschen setzen
    sollen, ich schaue selbst nicht in diesen Kategorien auf Instrumente.

  • Mal zum Vergleich: Um 1900/1910 kostete eine Sachsengeige vernünftiger Qualität (also geflammtes Holz, Ebenholzausstattung etc.) 15-34 Mark (das ging für "Topinstrumente" bis zu 80 Mark und darüber). Gitarren kosteten 15- ca. 30 Mark, und Celli einfachster Ausführung gab es schon ab 9 Mark! Für ca. 50 Mark bekam man schon das "Top- Cello". Ab 39 Mark bekam man einen Kontrabass inklusive Bogen. Bekannte Meisterinstrument lagen natürlich darüber...


    Angesichts dieser Preise (9 Mark für ein komplettes Cello!) kann man sich vorstellen, wieviel Geld bei dem einzelnen Erbauer ankam- lassen wir es gnädigerweise 8 Mark sein, oder vielleicht auch 10-12 für eine komplette Geige.


    Lebensmittel kosteten damals etwa Folgendes: 1kg Schweinefleisch 1,50; 1 kg Butter 1,70; 1l Milch 20 Pfennig, 1kg Brot 50 Pfennig, 3 Eier 10 Pfennig.


    Werte der deutschen Gesellschaft für Ernährung für einen Erwachsenen pro Tag: 300g Brot, Obst und Gemüse 650g, 250g Milch(Produkte), 50-100 g Fleisch, 30g Butter.


    Ich rechne das mal näherungsweise (ersetze Gemüse mit Fleisch/Eier, nur fürs Rechnen!!!) für eine kleine Familie (2 Erwachsene, 2 Kinder….in Wahrheit waren es eher 3-10 Kinder…): 1kg Brot, 1l Milch, 1kg Fleisch, 100g Butter.


    Macht Kosten von ca. 2-3 Mark pro Tag, natürlich näherungsweise. 1. Fleisch haben die sicher nie gegessen, aber ich habe keine Lust da jetzt weiter zu recherchieren, und für die Vorstellung, wie damals das Verhältnis zwischen Einnahmen und Lebensmittelkosten war, reicht es. 2. Dafür gab es mit Sicherheit mehr als 2 Kinder, und die Grosseltern noch mit dazu. Plus Pacht/Miete, Feuerholz, Krankheitskosten, Schuhe/Klamotten, Seife, Rohmaterial (Tonholz…), Werkzeug, Schulgeld für die Kinder, etc….. was man eben sonst noch so braucht.


    Wenn man da jetzt einfach mal näherungsweise mit 3-4 Mark pro Tag für ein einfaches Leben ohne Hunger rechnet, hätte der Handwerker und seine Familie in 2-3 Tagen ein (einfaches) Cello, in 3-4 Tagen eine komplette, gute Geige oder in 4-5 Tagen eine Gitarre bauen müssen. Ohne Urlaub, Feiertage, Wochenende.


    Unmöglich.


    Also, in der Familie musste JEDER mit ran- sei es Hausarbeit, sei es Holz vorsortieren, sei es Schneckenschnitzen, sei es Lackieren---- wenn man sich die obigen Werte mal ein bisschen durchrechnet, weiss man, in welch immenser Armut die Instrumentenbauer damals trotz ihres Fleisses dahinvegetiert sind.


    Daran sollte man denken, wenn man wieder "so eine billige Böhmenkratze" in der Hand hat...

  • Na da hast du dir ja viel mühe gemacht um es einmal auf den Punkt zu bringen.
    Böhmer Kratze hin oder her, bei mir wird jede Geige gleich behandelt.
    Auch wenn es manchmal lästig erscheint nach den Wert einer Geige zu fragen.
    Aber ich finde, eine Geige die Handwerklich, egal ob mit Hilfe der Familie oder nicht, durch einen Geigenbauer erstellt und betreut wurde, kann und will ich nicht verramschen. Ich habe Zeit und finde Irgend wann einen Geigenschüler der den Klang mag. Und dann bin ich auch bereit die Geige günstiger abzugeben.
    Ich finde, auch wenn der markt etwas anderes vorgibt, es hat irgend ein Geigenbauer zu welchem Jahrhundert auch immer, Hart dafür gearbeitet und das ist für mich der Wert ;)

  • Ja Braatsch, so wie Du es beschreibst, war es auch mein bisheriger Kenntnisstand über die damalige Manufakturfertigung. Neu war mir, daß es unter den Manufakturinstrumenten auch Meisterinstrumente geben konnte. Eben weil ich mir ausrechnen konnte, wie wenig Zeit für die jeweilige Erstellung eines Instrumentes vorhanden war, konnte ich mir eine derart präzise Eckenarbeit im Rahmen von Manufakturarbeit nicht vorstellen. Sowas kostet richtig Zeit, glaube ich. (Und nicht zu vergessen scheinbar simple Dinge wie Licht, Kerzenlicht im Winter?; Brillen – für arme Menschen damals unerschwinglich, und ab ca. 40 geht´s bei fast jedem los, - gut, da war das Durschnittsalter oft eh fast erreicht; fließendes Wasser ?, Temperaturmanagement?; etc. …)

    Es ist auch keinesfalls Geringschätzung der Arbeit "einfacher Leute", wenn ich es toll fänd, hier eine Geige, die aus einer Hand gefertigt wurde, hätte. Ist vielleicht eher so ein metaphysich aufgeladenes Ding. Der Herstellende geht unter günstigen Bedingungen eine Verbindung mit seinem Werkstück (egal ob Kunstwerk oder Gebrauchsgegenstand) ein, die unter den oben beschriebenen Umständen so nicht stattfinden kann. Das führt meiner Meinung nach zu anderen Ergebnissen. Die, -und das sehe ich durchaus auch-, nicht zwangsläufig subjektiv klanglich besser empfunden werden. Bisher habe ich z.B. auch noch keine Stradivari (gut, nie live) gehört, die mir klanglich besser gefallen hätte, als eine meiner Schrottis, die vermutlich aus bitterarmen Herstellungsumständen stammt. Eine, die noch warten muß, bis ich deutlich mehr in Sachen Reparatur gelernt habe…eben weil ich den Respekt für sie habe, der zugegebenermaßen durch die Basteleien und Leserei zum Thema mehr und mehr gewachsen ist und wächst…

  • "Meister" ist sicher relativ. Ob die nun alle einen Meisterbrief hatten oder nicht....-in geringem Umfang gab es natürlich Instrumente, die "aus einer Hand" bzw. "einer Familie" stammen. Oft haben beispielsweise die Frauen das Lackieren übernommen, und auch die Kinder irgendwelche Schleifarbeiten.


    Aber auch in einer "Meisterwerkstatt" übernimmt ggf. der Lehrling irgendwelche Arbeiten. Und Wirbel, Griffbretter etc. werden heutzutage auch meist zugekauft, insofern ist auch eine heutige Meisterarbeit mit "fremden" Teilen zusammengesetzt....Wo ist da die Grenze zu "aus einer Hand"?


    Fakt ist, es gibt namenlose "Manufakturinstrumente" in fast allen Qualitäten, wirklich gute "Meisterqualität" ist allerdings seeeeeeehr selten.


    Und ein Instrument, bei dem jeder Arbeitsschritt von einem "Spezialisten" ausgeführt wird, anstatt dass einer "alles" macht, egal wie gut er die einzelnen Schritte beherrscht, muss nicht schlechter sein. Das ist es nur, wenn es -im Gegensatz zum "Meisterinstrument" unter immensem Zeitdruck geschieht. Solange bei allen Beteigten das Gefühl und Verständnis für das Gesamtwerk vorhanden ist... das kann zumindest bei der Arbeitsteilung innerhalb einer Familie ( und heute innerhalb einer Meisterwerkstatt zwischen Meister und Lehrling) durchaus der Fall sein.