Sieben Irrtümer über die Geige

  • Ja, dann musiziere doch linkshändig, wenn Du das möchtest. Es muss aber nicht für jeden der richtige Weg sein.


    Mit seinem Musiklehrer muss das jeder selber ausmachen, und wenn es nicht passt, eben jemand anderen suchen. So selbstständig sollten auch die sensibelsten Schneeflöckchen sein…Letztendlich ist Händigkeit nur ein Teil dessen, was die Eignung für ein bestimmtes Instrument ausmacht- und verschiedene Instrumente stellen verschiedene Anforderungen.


    Mein Musiklehrer ist auch Linkshänder, musiziert „rechtshändig“ und war Orchestersolist. Die Herausforderungen sind eben andere. Ein Rechtshänder hat seine linke Hand zu trainieren- da hat ein Linkshänder dann Vorteile.


    Die Händigkeit und Körperlateralität ist verschieden ausgeprägt, und je nachdem muss man eben die andere Seite mehr trainieren. Rechtshänder die linke, und Linkshänder die rechte Seite. Und wenn es einfacher ist, andersherum zu spielen, dann ist das doch ok.

  • Also im Orchester kann ich mir nicht vorstellen, dass Spieler:innen derselben Stimme auf unterschiedlichen Positionen sitzen, also dass die Linkshänder woanders sitzen. Man muss ja aufeinander hören können. Man stelle sich zwei Gruppen von ersten Geigen vor. Die rechtshändig spielenden sitzen normal links, die linkshändig spielenden dann rechts hinter den Celli? Wie soll der/die Dirigent:in hier den Einsatz geben? Das funktioniert m.E. nur, wenn die Stimmen zusammen sitzen. Und auch wenn die linkshändigen ersten Geigen neben (vom Publikum aus gesehen hinter) den rechtshändigen sitzen würden, bräuchte man dafür auf der Bühne mehr Platz, um Zusammenstöße mit den Bögen zu verhindern.


    Man könnte evtl. bei den Geigen die Händigkeit auf die Stimmen aufteilen, so dass z.B. in der 2. Geige die linkshändig spielenden Geiger sind (wenn es so viele gibt). Aber schon bei den Celli und Bässen funktioniert das nicht, oder? Meines Wissens gibt es da nur jeweils eine Stimme.


    Gibt es Orchester, in denen rechts- und linkshändig spielende Musiker zusammen spielen? Und Videos davon? Das würde ich mir gern anschauen.

  • Ich kenne kleinere Ensembles, bei denen das gut funktioniert. Nach meinem Eindruck ist das eine Entwicklung, die langsam Fahrt aufnimmt. Ich stöbere gerne auch noch einmal nach der schwedischen Quelle, die ich erwähnte. Ist schon eine Weile her.


    Ich glaube auch, dass wir immer noch unterschätzen, wie viele Lefties es tatsächlich unter uns gibt. In der weiter oben zitierten Literatur gibt es Schätzungen von bis zu 50 %.


    Einige persönliche Eindrücke aus meinem Umfeld:


    - Von vier Geigenbauer*innen, mit denen ich in den vergangenen Jahren Kontakt hatte, sind 3 linkshändig, eine rechtshändig.


    - In einer 13köpfigen Musikgruppe, mit der ich spiele, gibt es 5 Linkshänderinnen.


    - In der Schule habe ich vor einiger Zeit mal eine Gruppe Neuntklässler, aus gegebenem Anlass, selbst probieren lassen, wie es so um ihre Händigkeit bestellt ist: In der 10köpfigen Gruppe gab es eigentlich nur einen offiziellen Linkshänder, der auch li schrieb.

    Nach einem Vormittag Erzählen, Ausprobieren, Testen, Selbstbeobachtung ergab sich folgendes Bild:

    - ein (bekannter LH, der auch li schrieb

    - eine LH, die als Kind nach einer Verletzung sich das Schreiben mit re angewöhnt hatte (sehr schönes Schriftbild), dabei geblieben war und nie auf die Idee gekommen wäre, dass das Wechseln der Schreibhand und etwaige Schulprobleme miteinander zu tun haben könnten
    - ein LH, der noch erinnerte, dass er sich in der Kita das Malen/Schreiben mit re angewöhnt hatte, das ebenfalls iwie verschüttet hatte
    - zwei vermutete LH (links klatschend, links blätternd, Auge links dominant, spontan Spiegelschrift schreibend/lesend ohne größere Probleme, Handfeger und Schaufel wie ein LH nutzend, nachmittags zu Hause weitere Aha-Erlebnisse bei der Beobachtung alltäglicher Verrichtungen...)

    Am nächsten Tag waren wir selbst ganz platt, dass sich ein (vermutetes) Ergebnis von 5:5 auftat...

    Schon spannend, das alles.


    Auf die Musik übertragen: Ich fände es sehr spannend, wenn sich herausfinden ließe, wie viele von den KIndern, die ihre Geige nach einigen Jahren Unterricht frustriert ad acta gelegt haben, dies getan haben, weil sie nicht ihrer Händigkeit gemäß musizieren konnten. (Es womöglich nicht einmal wussten.)


    Und egal ob sensibles Schneeflöckchen oder rustikale Eiche: Lange nicht jedem Kind ist es gegeben, einfach mal eben wechseln zu können (Schule wechseln?)

    Und so mancher findet eben auch erst nach Jahren heraus, um wie vieles schöner und bereichernder das Musizieren hätte sein können, wenn es händigkeitsgemäß stattgefunden hätte.

  • Ja, das, was Du beschreibst mit den Kindern ist eben genau das Spektrum. Nicht alle sind extrem lateralisiert, sondern viele Tätigkeiten sind bei vielen Menschen mit beiden Händen -mehr oder weniger gut- möglich.


    Nein, nicht jedem ist es gegeben, eben mal so wechseln zu können. Nicht jedem ist es gegeben, gute Lehrer haben zu können. Nicht jedem ist es gegeben, überhaupt die Chance zum Lernen zu bekommen. Wie viele intellektuell begabte Kinder landen -nur weil sie blind sind- statt auf der Uni in der Bürstenmacherei? Wieviele behinderte -geistig/körperlich- Menschen findet man in der Musik? Klar gibt es welche (Andrea Bocelli...), aber der Prozentsatz spiegelt auch nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Wieviele Flüchtlingskinder oder Kinder aus armen Haushalten bekommen keine Musikausbildung...? Die Welt ist eben leider nicht gerecht, nicht fair, nicht immer nett. Und trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die sich durchkämpfen und die sich nicht aufhalten lassen.


    Linkshändigkeit ist keine Behinderung und verhindert nicht das Lernen eines Musikinstrumentes. Die Herausforderungen sind einfach anders, und das sollten Lehrer wissen, bzw. gute Lehrer merken das, denn je nach Talent hat jeder seine Baustellen. Und ja, für manchen ist es besser, auf Linkshänderinstrumente umzusteigen oder das Instrument zu wechseln. Ich kann z.B. aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Geige/Bratsche spielen und bin aufs Cello gewechselt. Klavier, Blasinstrumente etc. haben andere Anforderungen an die Motorik.


    Auch Rechtshänder haben mit Herausforderungen zu kämpfen, denen fliegt das auch nicht alles so zu. Für einen Linkshänder ist eine Geläufigkeit auf dem Griffbrett und ein lockeres Vibrato viel einfacher, da muss dann ein Rechtshänder mehr üben und wird vielleicht nie richtig locker. Da geben auch genug Leute auf, weil sie es einfach nicht hinbekommen. Gerade Musizieren ist eine "beidhändige" Tätigkeit, wo jede Händigkeit Vor- und Nachteile hat (wobei ich nicht sagen will, dass es komplett egal ist und die Ergonomie nicht angepasst werden kann/sollte oder Linkshänderinstrumente überflüssig sind...sind sie nicht!). Aber jeder hat eine schwache Seite, und die muss man eben fördern oder eine für sich passende Lösung suchen.


    Und wie Du auch richtig beobachtet hast: In kleineren Ensembles oder im Schulorchester/Amateurbereich ist das inzwischen auch kein Problem mehr. Im Professionellen Bereich ist das schwieriger umzusetzen, aber wie gesagt, ich kenne Profis, die Linkshänder sind und wie Rechtshänder spielen.

  • Ich glaube, es hören mehr Kinder auf, Streichinstrumente zu lernen, weil es ihnen zu anstrengend ist, als wegen der Händigkeit. Man muss Ausdauer an den Tag legen und auch bereit sein, dieselben Stücke immer wieder zu üben, bis sie gut (genug) klingen. Das liegt nicht jedem. Vielen Kindern wird auch nicht vorgelebt, wie man richtig übt, weil die Eltern kein Instrument spielen. Ich merke bei meinen eigenen Kindern, wie sie davon profitieren, dass ich als Kind eine musikalische Bildung hatte und aktiv ein Instrument spiele.


    Ich glaube, die Händigkeit spielt vorwiegend bei den Streichinstrumenten und vielleicht auch bei Zupfinstrumenten eine Rolle. Die übrigen Instrumentenarten behandeln beide Hände gleich.


    Zur Chance für Kinder mit Migrationshintergrund bzw. aus armen Haushalten:
    Viele Musikschulen haben vergünstigte Preise für Familien mit geringem Einkommen. Und meine Geigenlehrerin ist vor einigen Jahren mal mit mehreren Geigen in jede Grundschule unseres Ortes gegangen und hat versucht, die Kinder für das Geigenspiel so zu begeistern, dass sie sich zum Musikschul-Unterricht anmelden. Am Ende gab es gerade mal ein Kind, das gern zum Unterricht gegangen wäre, aber seine Eltern haben es nicht hinbekommen, die Fahrt zur Musikschule und wieder nach Hause zu organisieren.

    Daraus schließe ich, dass das Interesse einfach nicht da ist. Das merke ich auch im Musikschul-Orchester: Es sind einfach zu wenige Leute, die mitspielen, und noch weniger, die regelmäßig zu den Proben kommen.

  • Auf die Musik übertragen: Ich fände es sehr spannend, wenn sich herausfinden ließe, wie viele von den KIndern, die ihre Geige nach einigen Jahren Unterricht frustriert ad acta gelegt haben, dies getan haben, weil sie nicht ihrer Händigkeit gemäß musizieren konnten. (Es womöglich nicht einmal wussten.)


    Das gilt auch für Rechtshänder:


    Viele Rechtshänder wurden einfach auf eine linke (normale) Geige geschult und wurden

    nicht gefragt, ob sie lieber eine „Linkshändergeige“ wollen.

    Ich kann mich erinnern, meine Kinder nahmen die Geige instinktiv „falsch“ herum.
    Vielleicht wäre eine Linkshändergeige für sie besser gewesen. Obwohl sie Rechtshänder sind.

  • Vielen Dank für all die Rückmeldungen. Das ist eine sehr anregende Diskussion.


    Zu deinen letzten Worten, Braaatsch:

    Ja, es gibt vielerlei unterschiedliche Hürden auf Lern- und Lebenswegen von Menschen. Und die Welt ist bei weitem nicht immer fair, gerecht oder nett.


    Linkshändigkeit ist keine Behinderung, richtig. Genausowenig wie Rechtshändigkeit eine Behinderung ist.

    Aber dem linkshändigen Agieren und Musizieren den gleichen Raum zu verschaffen wie dem rechtshändigen Agieren und Musizieren, gleichberechtigt und gleichwertig, dahin denke ich ist es noch ein weiter Weg.

    Und ich denke, es ist auf jeden Fall nicht der richtige Weg, von linkshändigen Menschen zu erwarten, sich den Erwartungen einer vermeintlich rechtshändig dominierten Musikerwelt unterordnen zu müssen. Die, wie sich immer wieder zeigt, eigentlich viel kleiner ist als angenommen und voll von linkshändigen Musiker*innen, die sich den vermeintlichen Notwendigkeiten des rechtshändigen Musizierens immer brav gefügt haben.

    Natürlich haben alle, RH wie LH, mit Herausforderungen zu kämpfen. Aber sie lassen sich nicht spiegeln. Die Führungshand, die Bogenhand, die dominante Hand, die ist mit ganz anderen Bereichen im Gehirn verdrahtet. Wenn die nicht dominante Hand den Bogen führt, wird dieses nicht einfach geswitcht, egal, wie sehr ich die nicht dominante Hand trainiere. Barbara Sattler spricht von "Knoten im Gehirn" und Walter Mengler findet auch sehr feinfühlige kluge Umschreibungen für das, was da stattfindet, wenn die nicht dominante Hand die Tätigkeit der dominanten Hand übernimmt und umgekehrt.


    Was ich beschrieben habe mit den Kindern in der Schule, zeigte mir übrigens weniger ein Spektrum von Lateralisierungen, sondern vor allem, wie viele LH nach wie vor unbemerkt durch die Maschen rutschen. Mit unnötigen Schwierigkeiten und Hürden für die schulische Entwicklung, die die Umstellung der Schreibhand, bewusst oder unbewusst, nach wie vor mit sich bringt.


    Hey Fiddler, bist du dir wirklich ganz sicher, dass deine Kinder tatsächlich Rechtshänder sind? ;)

  • Ja, alles ganz schlimm mit den Erwartungen der rechtshändigen Musikerwelt.


    Wenn Händigkeit getestet wird, geschieht das wissenschaftlich seriös mit Fragebögen (z.B. mit dem Edinburgh Handedness Inventory), die das Spektrum abfragen und erfassen. Es ist eben nicht so schwarz-weiss.


    Dass Anfänger instinktiv das Instrument anders herum nehmen, hat den Grund, dass für viele Menschen, die noch keine Ahnung haben, das Greifen erstmal schwieriger erscheint- der Bogen „muss ja nur hin und her“.


    Und ja, ich nehme an, dass Fiddler die Händigkeit seiner Kinder kennt. 😁

  • Und ja, natürlich wird die Motorik der beiden Seiten in verschiedenen Hirnarealen gesteuert. Das sieht man sehr deutlich bei Schlaganfallpatienten. Neuronale Plastizität findet eben nur in bestimmten Grenzen statt.