Sieben Irrtümer über die Geige

  • ??? "Mythos 6: Linkshänder können nicht Geige spielen" ???


    Ich beschäftige mich schon viele Jahre mit dem Phänomen Linkshändigkeit, nicht gelebter Händigkeit, Auswirkungen von Umerziehung, bewusst oder unbewusst.

    Ein Mythos "Linkshänder können nicht Geige spielen" ist mir allerdings noch nie begegnet.


    Unausrottbar scheint jedoch ein Mythos zu sein, der immer noch in einigen Köpfen vorhanden ist:

    nämlich dass linkshändige Musiker*innen in einer immer noch von preußischem Gleichschritt geprägten Orchesterdisziplin ihre Händigkeit zu unterdrücken haben und rechtsherum spielen müssen.


    Wie hoch der Preis dafür sein kann, hat Walter Mengler, ehemals Cellist und rechtsherum spielender Linkshänder im Aachener Sinfonieorchester, 2010 sehr eindrücklich beschrieben. Hier sein wegweisendes hervorragenden Buch dazu Musizieren mit links . Er formuliert es etwa so: Ein Linkshänder, der rechtshändig spielt, muss, bei gleicher Begabung, viel mehr Energie aufwenden als ein Rechtshänder, um das gleiche Ziel zu erreichen. Es ist, als führe er mit angezogener Handbremse. Und er beschreibt auch sehr einfühlsam, dass in der dominanten Hand die Seele sitzt, die Finger der anderen Hand die "Sekretäre" seien, die zuarbeiten...


    Erfreulicherweise beginnen immer mehr musikalisch Aktive, sich aus diesem preußischen Korsett zu lösen, auch klassische Berufsmusiker*innen:

    Linkshändiges Instrumentalspiel | Linksgespielt

  • Im Orchester ist es eine Sache der Optik und des Platzes, weshalb alle Streicher einer "Gruppe" in dieselbe Richtung streichen sollten. Ich kann das verstehen.


    Ich bin selbst Linkshänderin, musste aber als Kind mit rechts schreiben lernen und mache auch vieles mit rechts, z.B. schneiden und Dinge, die Kraft erfordern. Die linke Hand nutze ich bevorzugt für feine, kleinteilige Arbeiten. Das ist vermutlich alles eine Frage der Gewöhnung. Ich lerne seit knapp 7 Jahren Geige, spiele auf einer Rechtshänder-Geige und habe damit keine Probleme, weil ich es halt gewöhnt bin, auch Dinge mit rechts zu machen, und weil ich so das Geigenspiel erlernt habe. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, die Geige andersherum zu spielen.

  • Damit gehörst du zu der großen Schar von Linkshänder*innen, die sich mehr oder minder freiwillig damit arrangiert haben, zu Lasten ihrer angeborenen Händigkeit zu funktionieren. Linkshänder*innen sind oft erstaunlich anpassungsfähig (und leiderprobt). Alles "eine Frage der Gewöhnung"? Ja, aber zu einem sehr hohen Preis. Der nicht gezahlt werden müsste, wenn jeder Mensch seiner Händigkeit gemäß leben, arbeiten, schreiben, musizieren würde.


    Ich gehöre auch zu denen, die noch rechts schreiben lernen mussten. Und als ich als Jugendliche meine ersten Saiteninstrumente spielte (Gitarre u.a.), tat ich dies auch rechtsherum, ohne mir etwas Böses dabei zu denken. Hatte aber nach wenigen Jahren zunehmend das Gefühl, dass ich an Grenzen stieß, die durch meine rechte Hand verursacht wurden. Ich verkantete, war verspannt, verhakte im Rhythmus oder bei schnelleren Läufen...

    Kurzentschlossen spannte ich die Gitarre um (später auch mein Banjo etc.) und fing an linksherum zu spielen. Es fühlte sich VIEL besser an, viel stimmiger, nur leider bedeutete das auch, quasi bei Null wieder anzufangen. Die Geläufigkeit, die Routine war weg, ich konnte erstmal nicht mehr mit den anderen zusammen spielen.

    Ziemlich frustriert habe ich deshalb die Saiten einige Zeit später wieder rechtsherum gespannt, obwohl ich ziemlich sicher war, dass das nicht der richtige Weg und nur die zweitbeste Lösung war.

    Aber ich hatte mir damals fest vorgenommen, dass ich jedes neue Instrument, dass ich in meinem Leben noch spielen sollte, gleich richtig herum lerne!


    Mittlerweile habe ich drei Geigen, alle drei linkshändig spielbar. Und ich genieße es jeden Tag. Meine Hauptgeige ist komplett grundständig linkshändig neu gebaut, eine laute mit vollem schönen Ton.


  • Ich kann das mit der „Seele“ nicht nachvollziehen und halte das für fragwürdig. Ich denke auch nicht,

    dass mehr Energie aufgewendet werden muss. Ich halte dagegen:


    Würde man Schülern beide Seiten anbieten (Rechte und linke Geigen), dann würden sich viele für

    Linkshändergeigen entscheiden, und zwar auch sehr viele Rechtshänder. Vielleicht sogar mehr als für „normale“

    Geigen, weil das Greifen mit Rechts zunächst leichter erscheint.


    Und natürlich würden alle bei der gewählten Seite auch bleiben.


    Das ganze kennt man z.B. auch beim Eishockey. Ob jemand den Schläger rechts oder links spielt, ist

    weitgehend unabhängig von „Links- oder Rechtshänder“ ... es kommt beides vor und liegt einfach nur

    daran, wie man als Kind anfängt zu spielen.

  • Die Händigkeit kann eine unterschiedliche Ausprägung haben. Es gibt da alles von extremer Händigkeit bis hin zu (fast) beidhändig.


    Dementsprechend ist das zwischen einzelnen Leuten auch nicht unbedingt vergleichbar- der eine ist „extremer“ Linkshänder, der andere hat nur eine „leichte Links-Dominanz“. Da kann der Eine auf unüberwindbare Probleme stossen, die der Andere mit ein bisschen mehr Üben meistert. Und da ist es für den Einen ratsam, sich ein Linkshänderinstrument zuzulegen, für den Anderen nicht.


    Beim Musizieren werden oft beide Hände gebraucht- insofern hat da jeder mit einer dominanten und einer schwachen Seite zu kämpfen. Ich kenne auch linkshändige Berufsmusiker, die „rechtshändig“ spielen. Die mussten dann zwar mit der Bogenführung kämpfen, aber hatten es dafür mit der Greifhand leichter. Aber das kann jeder für sich entscheiden, wie man sich wohler fühlt.

  • Eishockey: Es gibt da natürlich eine Präferenz. Genauso, wie es sich „komisch“ anfühlt, den Besen/Staubsauger anderseitig zu halten. Das hat damit zutun, dass es nicht nur eine Händigkeit gibt, sondern die Körperhälften unterschiedlich stark sind, beispielsweise gibt es auch einen dominanten Fuss. Entsprechend fallen uns bestimmte Bewegungen leichter, und eine Seite wird präferiert. Diesen „Seelen“-Theorien darf man daher auch ruhig mit viel Skepsis begegnen. Auch wenn es natürlich einfacher ist, wohldosierte ausdrucksstarke Töne zu produzieren, wenn die motorische Feinabstimmung einfacher gesteuert werden kann.

  • Die Hände sind nicht austauschbar. Wir werden mit einer dominanten Hand geboren. Die bleibt auch unsere dominante Hand und verfügt über andere Fähigkeiten, egal wie sehr wir beide Hände trainieren.

    Es gibt da einiges an interessanter Literatur zu, nicht nur zum musikalischen Bereich, z.B. hier:

    Johanna Barbara Sattler – Wikipedia

    Dass mehr Energie aufgewendet werden muss, wenn die nicht dominante Hand dominante Tätigkeiten übernimmt, ist unbestritten. Dass die Ergebnisse von unterschiedlicher Qualität sind, dass auch im Körper unterschiedliche Dinge ablaufen, abhängig davon, welche Hand man benutzt, es gibt viel lesenswerte Fachliteratur dazu.


    Faszinierend finde ich, dass es bis heute eine große Dunkelziffer von (unbewusst) umerzogenen Linkshänder*innen gibt, sowohl unter den Älteren als auch unter nachwachsenden neuen Generationen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass bis heute in der Schule ein nicht unerheblicher Prozentsatz an Kindern rechts schreibt, die eigentlich Linkshänder sind und unerkannt durchgerutscht sind. Und dies manchmal erst in höheren Klassen bemerken, wenn auf Grund entstandener motorischer, RS- oder anderen Schwierigkeiten genauer hingeschaut wird.


    Die Hände sind nicht austauschbar. Das ist in der Musik, wo es so sehr um Ausdruck und Gefühle geht, ebenso spürbar wie beim Waldarbeiter, der mit der nicht dominanten Hand die Motorsäge führen muss, weil es keine Motorsäge für Linkshänder gibt...

  • Nein, „austauschbar“ sind die Hände nicht. Aber der Grad der Händigkeit, also wie stark lateralisiert ist, ist eben nicht gleich und nicht absolut.


    Und ja, natürlich lassen sich beide Hände trainieren, und es gibt auch genug Instrumente, wo beide Hände ähnlich virtuos sein müssen (z.B. Holzbläser, Klavier…).


    Ein Linkshänder hat dann beim rechtshändigen Geigen mehr mit der Bogenhand zu üben, dafür vielleicht schneller ein lockeres Vibrato, kommt auf dem Griffbrett schneller klar etc.- es ist eben nicht nur schwarz-weiss. Wenn Du für Dich den Weg der Linkshänderinstrumente gehen möchtest, dann ist das gut und richtig. Aber für andere Linkshänder vielleicht nicht- das ist eine ganz individuelle Entscheidung.

  • ;) So einfach?

    Ich fürchte, so weit, dass jeder Interessierte das frei und individuell entscheiden kann, sind wir noch lange nicht.

    Ja, es gibt erfreulicherweise inzwischen mehr und mehr Musikunterrichtende, die offen im Sinne der Kinder/Schüler*innen links- und rechtshändiges Spielen gleichermaßen unterstützen.

    In meiner Umgebung nehme ich aber auch immer wieder noch wahr, dass Eltern, die ihr Kind eigentlich in Ruhe auswählen lassen möchten und händigkeitsgemäßes Musizieren bestmöglich unterstützen möchten, mit dieser nicht auszurottenden Orchesterdisziplindiskussion konfrontiert werden. Und sich immer noch einschüchtern lassen, etwa, wenn es um Teilnahme an Streicherklassen oder Schulorchester geht und das musische Personal nicht im Sinne des Kindes sondern im Sinne überkommener Orchesterdisziplin entscheiden möchte.

    Da braucht es nach wie vor viel Beharrlichkeit und Stehvermögen.


    Utopie (?): Plötzlich sind wir dann ganz erstaunt, wie viele linkshändige Menschen es tatsächlich unter uns gibt, die längst linkshändig musiziert hätten, wenn man sie gelassen hätte. Und es wird ganz selbstverständlich sein, dass die Lefties im Orchester auf der einen Seite sitzen, und die Righties auf der anderen. Niemand kommt sich ins Gehege.

    In einem Text zu schwedischen Orchestern war mir so etwas schon begegnet. Bei uns dauert es eventuell noch etwas länger...