Geige mit "Kobra"-Wirbelkasten

  • Meine neueste Errungenschaft ist laut Verkäufer "an early English rural model early 1800's" (Auskunft eines Auktionshauses). Was sind die auffälligsten Merkmale?


    Der Wirbelkasten verbreitert sich zur Rückseite hin, so dass Hals und Schnecke ein bißchen wie eine aufgerichtete Kobra aussehen. Ober- und Unterklotz sind auffallend halbrund, der Unterklotz ist sehr klein. Die Maserung der Klötze ist verkehrt, und die Klötze sind eher grob ausgestochen, die übrige Innenarbeit ist sauber, wenn auch flüchtig. Der Hals ist auf die Zarge aufgesetzt und im Oberklotz mittels einer großen (handgemachten?) Schraube fixiert. Die Eckklötze sind etwas größer zu den C-Bügeln hin, und die Reifchen der C-Bügel sind angespitzt minimal in die Eckklötze eingelassen. Die Einlagen sind jedoch nur gemalt. Die Unterzarge ist durchgehend. Die Schnecke ist fast bis zum bitteren Ende gekehlt. Das Griffbrett ist erkennbar barock, also keilförmig und deshalb am Obersattel nur 3 mm hoch. Der Hals ist kurz und ergibt eine Mensur von ca. 31,8 cm bei einer Korpuslänge von 35,2 cm und einer Gesamtlänge von 58 cm. Auch der Bassbalken ist kurz, ich kann aber nicht erkennen, ob er stehengelassen ist. Der Lack ist ein sehr transparentes Hellbraun, das Bodenholz ist schön geflammt, die Decke sehr eng (in der Mitte) bis weit gemasert. Am Boden haben sich Holzwürmer gütlich getan. Die Decke hat zumindest am Unterklotz einen Stift, der Boden hat keine Stifte, wie es aussieht. Unter dem Zäpfchen gibt es auf dem Boden eine Inschrift: (J) I C P.H.D.


    Hat jemand so eine Arbeit schon mal gesehen? Oder ist sie das Werk eines fantasiebegabten Amateurs? Die große Schraube wirkt etwas brachial, und von einem gelernten Geigenbauer würde ich einen Nagel statt einer Schraube erwarten. Oder könnte sie eine spätere Ersetzung sein? Sie sieht handgeschmiedet aus. Die rückseitigen Wirbelkastenwände haben natürlich ziemlich gelitten, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das dort fehlende Holz ergänzen soll.


    Hier ein paar Bilder:


          


          


          

  • Interessante Geige! Ich glaube nicht an die Arbeit eines Amateurs. Die Schraube ist allerdings sicher nicht original- das ist eine moderne, normale maschinell hergestellte Senkkopfschraube, die schon mehrmals irgendwo aus-und eingeschraubt wurde (erkennbar an den Spuren an Schlitz). Und die wird eigentlich anders verschraubt- oberflächliches Aufbohren des Bohrlochs ermöglicht ein Versenken der Schraube. Hier ist die einfach irgendwie reingedreht worden…


    Wahrscheinlich hat schon jemand vor Dir die Geige geöffnet, die ist mir auch zu sauber für „seit 200 Jahren ungeöffnet/ungereinigt“. Alter: Für mich schwer einzuschätzen, ich halte sowohl frühes 19. Jahrhundert als auch einen deutlich späteren, kopierenden Nachbau für möglich.


    Vielleicht hat die Geige einem Doktoren gehört 😉 (PhD, aber das wird zumindest heutzutage anders geschrieben).

  • Offen ist die Geige scheinbar schon eine ganze Weile. Der Vorbesitzer hat sie nach eigener Aussage schon mit den separierten Bodenhälften gekauft. Dann hing sie eine Weile als Deko an der Wand, und irgendwann hat er sie von einem Auktionshaus schätzen lassen. Dort wurde ihm wohl geraten, sie instand setzen zu lassen, was allerdings sehr teuer geworden wäre, denn die beiden Bodenhälften sind total verzogen, und bei beiden fehlt Holz. Er hat versucht, die Bodenhälften selbst zusammenzuleimen, immerhin mit Titebond, ist aber gescheitert und hat die Geige daraufhin verkauft.


    Ich scheue mich ein bißchen davor, die Schraube rauszudrehen. Zwar wirkt die Geige stabil, aber vielleicht geht dabei doch etwas kaputt. Und womit schließt man den Kanal dann? Ausbohren und Holzdübel rein? Oder einen Monsternagel?


    Die Tinte, mit der die Signatur auf dem Boden geschrieben wurde, sieht genau so aus wie die Tinte, mit der die Einlagen aufgemalt wurden. Es könnte sich hier also um das Signum des Erbauers handeln.

  • Wieso oft: ein schöner, barocker Scherbenhaufen. Du musst halt entscheiden: willst du eine Antiquität zum ab und zu anschauen, oder willst du mal darauf spielen?



    Dass die Reifchen aufgemalt sind, ist normal. Gemalte Reifchen gibt es auch bei vielen hochwertigen alten ( zum Beispiel englischen, sehr teuren) Geigen.



    Wie ich dich kenne, willst du sie reparieren und spielfähig machen?😉



    Dann musst du sowieso alles auseinander machen, schon allein wegen dem Boden, man muss zuvor eventuell Formen abnehmen. Die Schraube muss raus! Dann würde ich den Hals in den (eventuell neuen?) Oberklotz versenken, aber so verputzen, dass er wie aufgesetzt (Barock) aussieht. Boden eventuell einen Spahn einsetzen? Dass ich die Violine nie einem Geigenbauer zuordnen lassen wird, ist die Reparatur eine schöne Arbeit aber nicht rentabel.


    Alte wie auch neue genagelt Geigen sind immer eine Freude für den Geigenbauer, da ständig Reparaturen am Hals notwendig sind.


    Die Widhalm im Bild ist so ein Beispiel: Held, einfach nicht!🙈


    Bild eins und zwei: Guido Reni um 1600, schon damals gingen Geigen regelmäßig kaputt!


    Bild 3-8: fachmännisch repariert Widhalm nach kurzem wieder offen!🤷‍♂️

  • Lustig, dass die Geigendecke bei Reni überall gerissen ist, nur nicht am Steg ;)


    Und natürlich will ich sie spielfertig machen! Sie ist für mich auch kein Scherbenhaufen, es ist ja nur der Boden, der ein bißchen Arbeit machen wird. Nicht nur, weil er verzogen ist, sondern auch wegen der Wurmgänge, die ich mit Heißleim auffüllen werde.


    Mit dem genagelten Hals hab ich allerdings auch meine Bedenken. Ich gehe davon aus, dass auch ein genagelter Hals zusätzlich immer geleimt ist und der Nagel nur aus Gründen der Stabilität eingebracht wird, weil der Hals nicht versenkt, sondern nur aufgesetzt ist.

    Allerdings frage ich mich, wie man es bewerkstelligt, den Nagel einzuschlagen, ohne dass sich der angeleimte Hals dabei löst. Ich gehe davon aus, dass man zuerst den Hals anleimt und danach den Nagel einschlägt. Vielleicht gibt es dafür spezielle Formen, in die die Geige vor dem Nageln eingespannt wird, damit sich nichts löst.


    Aber ich tendiere eher dazu, den Oberklotz weiterzuverwenden und statt eines Nagels einen Holzstift einzuleimen (Der Original-Nagel ist eh weg). Das dürfte wenigstens halten, auch wenn spätere Restaurateure bei Arbeiten am Hals dann vermutlich wenig Freude haben werden.


    Vielleicht würde der genagelte Hals bei Deiner Widhalm auch besser halten, wenn das Zäpfchen dicker (aufdoubliert) wäre und Du ein Inlay machen würdest, um Zäpfchen und Boden stabil miteinander zu verbinden Chiocciola.

  • Ich finde ja die Formgebung, insbesondere der Schnecke an Deiner Geige recht ästhetisch!

    Aber einen Hals würde ich aus konstruktiv optimierenden Gründen immer fischgrätartig anschäften. Bei einer Barockgeige kann man den Anschluss optisch so gestalten, dass er wie genagelt und aufgesetzt aussieht.



    Aber das sind die Vorstellungen vielleicht verschieden🤷‍♂️. Nicht desto trotz haben viele Barock-Ensembles barock anmutende und klingende Instrumente, die von der Halstatik hier jedoch modern gebaut sind.


    Aber du magst ja gerne Geigen reparieren😉.

    Im Anhang noch ein paar schöne Instrumente von Reni um 1603-1620. (Ausstellung, Frankfurt, Städel) Sehen doch aus wie Stradivari Modelle? Vielleicht hat Antonio alles kopiert? Oder sind es mehr Amati Modelle?