Geigenrätsel 1

  • Hallo allerseits,
    nachdem ich hier schon eine Weile still mitlese, möchte ich mich heute bei Euch mit einem Geigenrätsel vorstellen.

    Mein Name ist Hannes, ich bin Geigenspieler, und ausserdem sehe ich mir in der letzten Zeit zunehmend gerne Geigen an.

    Da ich vom Spielen herkomme, beurteile ich bisher eine Geige erst einmal über den Klang und die Funktionalität. Da ich auch nicht das notwendige Kleingeld habe, mir fünf alte Italiener hinzulegen :S bewege ich mich meistens in Preisbereichen, bei denen ich ausserdem davon ausgehe, dass der Zettel in der Geige standardmäßig nicht stimmt. Trotzdem interessiert mich natürlich das ungefähre Alter und die Herkunft einer Geige.

    Bei der hier vorgestellten Geige kann ich mir ehrlich gesagt gar kein Bild machen. Von "letztes Jahr in Rumänien oder China gebaut" bis "Mitteleuropa, hundert Jahre oder älter" könnte alles drin sein. Warum sage ich, es könnte auch ein neues Instrumen sein? Weil ich mir vorstellen kann, dass zumindest ein Teil der Optik nicht auf echter Abnutzung beruht, sondern auf einer "Antikisierung" (möglicherweise, aber hiermit kenne ich mich nicht so gut aus).

    Auffällig ist der klare, kräftige Ton, der besonders im Vergleich zu vielen anderen Geigen auf den Mittelsaiten (D und A) nicht abfällt. Die Geige liefert in live-Situationen richtig ab, ist dabei nie schrill oder hart. Auch reagiert die Geige sehr schön auf Vibrato. Diese Umstände lassen mich jedenfalls vermuten, dass es sich nicht um ein Billiginstrument handeln kann.

    Halsmensur: 132 mm
    Korpuslänge: 355 mm
    Becken: 208 mm
    Hüfte: 111 mm
    Schulter: 167 mm
    Unlackierter Hals
    Gewicht mit Kinnhalter: 491 gr
    Zettel: Vorhanden, schreibe ich später, kein "alter Italiener", aber möglicherweise dennoch irreführend.

    Situation: Ich habe die Geige neulich gekauft, nutze sie gerne, habe keine Absichten, sie wieder loszuwerden. Es interessiert mich einfach, was sie für eine Geschichte haben mag.

    Ein Bild hänge ich hier an, alle anderen habe ich in eine Galerie gepackt. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr Euch kurz die Zeit nehmen würdet, kurz zu schreiben, was Ihr über die Geige denkt!

    Schöne Grüße, Hannes

    Galerielink:

    https://www.hannesfoto.de/20200827Geigenraetsel/n-ZpQdw6/


  • Erstmal willkommen!

    Auf jeden Fall keine alte Geige. Ich würde auf osteuropäisch tippen. Die "Antikisierung" ist relativ laienhaft. Von realistischen Benutzungsspuren weit entfernt. Vielleicht wurde da sogar später mal nachgeholfen, um ein höheres Alter vorzutäuschen und damit vielleicht einen höheren Preis zu erzielen.

    Aber wenn sie gut klingt, dann ist das natürlich das Wichtigste. Bei ebay wird sie wohl nur wenige hundert Euro (2-3) bringen.

  • Also den Wiener raum um 1871 würde ausschließen. Ich habe aber auch ähnliche auf Altgetrimmte Geigen aus Fernost gesehen. Am wahrscheinlichsten ist aber Für mich Rhgin oder wie der Ort Rumänien heißt.

  • Ich hatte auch gleich das Gefühl, eine neue Geige zu sehen. Die Altersspuren sind alle künstlich,

    vielleicht etwas übertrieben, aber das ist alles Geschmackssache, mir gefällt es so.

    Die Ausführung ist schon sehr gut. Holzwahl auch. Yitamusic schließe ich aus, wegen Lack und Schnecke.

    Woher? Aus einer sehr guten Werkstatt. China wäre schon möglich.

  • Ja, wie alle anderen schon schrieben ist das eine neue Geige.


    Herkunft: Schwer genau zu sagen. Der Ahorn sieht mir europäisch aus, daher tendiere ich auch eher zu Südosteuropa. Ungarn, Rumänien,... „Billuglohnländer“ mit fleissigen, kompetenten Geigenbauern.


    Die Holzauswahl ist fantastisch, so feines Deckenholz sieht man heute nicht mehr so oft. Die Verarbeitung ist top. Die Antikisierung ist für meinen Geschmack etwas übertrieben (zumindest der „Kinnhalterfleck“ auf der falschen Seite...), aber das ist Geschmackssache. Aufgrund der Holzauswahl und Verarbeitung glaube ich eher an eine individuelle (Werkstatt-)Arbeit bzw. kleinere Manufaktur, ob nun Reghin oder woanders in Rumänien, irgendwo in Ungarn, der Slovakei, Bulgarien, Balkanstaaten- es gibt dort überall sehr gute Geigenbauer.


    Wert: Liegt v.a. im Klang, und das ist das, was für Dich als Spieler relevant ist.

  • Hallo und vielen herzlichen Dank für Eure Einschätzungen. Sie bestätigen meinen eigenen Eindruck.

    Als ich die Geige erhielt, war der Stimmstock umgefallen und ich konnte zunächst erst einmal nur vom optischen Eindruck ausgehen. Mit dem Instrument in der Hand war mir gleich klar, dass die Abnutzungsspuren "per Design" zugefügt sein mussten. Das hatte ich auf den etwas unscharfen Bildern des Angebotes so nicht erkannt. Entspechend konnte es sich also nicht um eine längere Zeit im Orchester gespielte Geige handeln, und ich war zunächst ziemlich enttäuscht. Andererseits sah ich auch, dass das Deckenholz wohl ziemlich gut sein könnte, und zu schwer oder zu leicht war die Geige auch nicht.

    Also fuhr ich zu meinem Geigenbauer, um die Stimme wieder aufstellen zu lassen und auch, um seine Meinung zu hören. Er tippte ebenfalls auf "sehr neues Instrument", und ich konnte förmlich seine Denkblase sehen "warum kaufst Du bloß so einen Schrott ...?".

    Als der Stimmstock dann aufgestellt war und ich die ersten Töne auf der Geige spielte, bekamen wir allerdings große runde Augen. Wer auch immer dieses Instrument gebaut hat, er oder sie kann das richtig gut.

    (Nebengedanke: Falls es solche Instrumente tatsächlich für 300 EUR auf dem Markt geben sollte, dann würde ich gerne wissen, was diese Person für 1500 EUR bauen kann .... ich hätte Interesse :) )

    Wie auch immer, ich denke, ich habe hier aus Versehen oder mit Glück eine echte, gute Geige in der Verkleidung eines VSO (violin shaped object) entdeckt. Da sie ziemlich neu zu sein scheint, könnte es sogar sein, dass sie sich klanglich mit weiterem Spielen noch entwickelt.

    Hier ist eine Tonprobe:
    http://www.strings-on-demand.com/demos/Geigenraetsel_01c.mp3

    Meine Einschätzung der Klangparameter (10 bedeutet das Maximum)
    Lautstärke (1 -10): 9
    Tonhelligkeit (1 - 10): 7,5
    Ansprache in den unteren Lagen (1 - 10): 10
    Ansprache und Nebengeräuschfreiheit in den höchsten Lagen
    G (1 - 10): 9
    D (1 - 10): 8
    A (1 - 10): 6,5
    E (1 - 10): 7,5
    Lebendigkeit bei Vibrato (1 - 10): 7,5

    Ausgeglichenheit zwischen den Saiten und Lautstärkenprofil:

    A- und D-Saite passen sich sehr gut ein. Insgesamt tendiert die Geige eher zum Diskant, d. h. in den unteren Lagen ist die Lautstärkenreihenfolge E (am lautesten), A, D, G (am schwächsten, relativ zu anderen Geigen betrachtet). Die Geige wäre dort geeignet, wo man Durchsetzungsvermögen braucht, z. B. für Klaviertrio, und könnte sich auch noch in eine 1. Geigengruppe einpassen, jedoch nicht für 2. Geigengruppe oder 2. Geige im Quartett, auch zu laut für Wohnzimmerständchen
    Besaitung: Dominant, Alter unbekannt.

    Vielen Dank für's Mitmachen, das hat Spaß gemacht!
    Hannes

    PS.: Der Zettel sagt "Georg Adam Krausch, Wien 1871", aber dass das nicht sein konnte, war nach dem Auspacken schon klar.
    Außerdem wurde der Geigen- und Lautenmacher Georg Adam Krausch im Jahr 1810 aktenkundig geschieden, das passt schon von daher nicht zusammen.



  • Die Preiseinschätzungen sind immer „problematisch“.


    Ganz einfach deshalb, weil der wichtigste Aspekt für einen Spieler, der Klang, per Internet (und Ebayanzeige...) einfach nicht getestet werden kann.


    Daher ist das eher als „Untergrenze“ zu verstehen, also das, was angesichts des Risikos ein völlig unbrauchbares Instrument zu erwischen durchschnittlich ausgegeben wird. Mit dem individuellen Instrument und seinem Klang hat das daher wenig zutun- viele Geigenforen bieten daher gar keine Wertschätzungen an, und sehen diese als „unseriöses Rätselraten“ an.


    Man kann genaugenommen eigentlich nur Instrumente wertmässig einordnen, von denen viele auf dem Markt sind und wo es eine breite Vergleichsbasis gibt. Sprich, bei den berühmt-berüchtigten Sachsen/Böhmen/China-Geigen. Natürlich gibt es auch dort klangliche Ausreisser.


    Aber da die Forenteilnehmer immer gerne alles zur Herkunft wissen wollen und eine Preiseinschätzung wünschen, geben wir hier jeweils unser „best guess“ ab.

  • @ Braaatsch
    Danke für Eure wertvollen Beiträge, und bitte versteht meine kleine augenzwinkernde Bemerkung nicht als Kritik :)
    Um den Preis ging es mir hier auch gar nicht, aber schon um Eure Einschätzung zur Herkunft und Bauweise. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen!

    Ich persönlich habe eine "Schmerzgrenze", und zwar EUR 1000, oberhalb derer ich grundsätzlich kein Instrument ohne Ausprobieren oder Rückgaberecht kaufe. Der Bereich von 300 - 1000 EUR ist für mich insofern interessant, als dass man Glück haben und ein wirklich brauchbares Instrument erwischen kann, oder man greift auch mal total daneben. Ich versuche, langsam ein Gespür dafür zu entwickeln. Meine "Maßstab" im Preisbereich von EUR 300 - EUR 2000 sind Geigen aus der Werkstatt von David Lien, von denen ich mehrere Qualitätsstufen habe. In diese Skala reiht sich die "Krausch"-Geige mit den EUR 950, die ich dafür ausgegeben habe, nach meinem Dafürhalten sehr würdig ein, und man hätte rein vom Klang und von der Spielbarkeit her auch das Doppelte dafür ausgeben können.

    Ein bisschen bedenklich finde ich, dass die Erfordernisse des Marktes offensichtlich gute Geigenbauer dazu bringen, in ihre Geigen fragwürdige Zettel einzukleben und noch fragwürdigere Abnutzungsspuren reinzurubbeln. Es wäre doch viel schöner, wenn sie mit Stolz ihren Namen hineinschreiben könnten: "Dieses Instrument habe ich gemacht". Und wenn es Werkstattinstrument Nr. XY ist, auch gut. Ich würde es ihnen wünschen, und für mich hätte so ein Instrument mit bekannter und glaubwürdiger Herkunft immer etwas mehr Wert als eines mit einem offensichtlich falschen Zettel.

  • Natürlich wäre es schöner und besser Geigen mit bekannter Herkunft zu kaufen.

    Wenn wir von eBay ausgehen, wo ich selber viele Instrumente kaufe, die klanglichen "Sahnestücke" behalte und den Rest auch wieder ab 1€ verkaufe, muss ich feststellen, dass der Großteil der Instrumente ins Ausland geht. Meistens Spanien, Frankreich, Österreich, die USA, die Russische Föderation, China, Japan, Korea uvm.

    Die Instrumente die keinen Zettel oder echte Zettel bzw. echte Brandstempel haben (z.B. Meinel und Herold, Gebrüder Placht, Hopf, Ackermann & Lesser etc.) erreichen nur deutlich kleinere Preise als Geigen u.A. von deutlich schlechterer Qualität mit italienischen Zetteln...

    Manche dieser Käufer haben mir auch ihren großen Reiz für gefälschte Zettel kund getan, was Ich überhaupt nicht verstehe.

    Für uns ist dieser Trend natürlich sehr schade. Auch weil viele echte Zettel entfernt werden um italienische oder wie in deinem Fall wiener Zettel einzusetzen.


    Ich selber habe eine chinesische Heifetz Kopie (Ron Slam) für ca. 1200€ gekauft. Ich bin sehr zufrieden. Sie klingt extrem gut und übertrifft gut und gerne Geigen für 5000€ (Meiner Meinung nach sowohl optisch als auch klanglich).

    Ich finde den Preis für eine nahezu perfekt ausgearbeitete Geige mit sehr gutem Klang, sehr guter Spielbarkeit, Öllack und einer bekannten und auch ziemlich anerkannten Herkunft mehr als gerechfertigt.